Die Geister, die ich rief

Mehr als 220 Künstler*innen aus 18 Ländern präsentierten dieses Jahr ihre Arbeiten in 30 Produktionen, vier Uraufführungen und 16 Deutschlandpremieren. Festivalleiterin, Virve Sutinen und HAU-Intendantin, Annemarie Vanackere haben mit ihrem Jubiläumsprogramm die ganze Spannbreite der internationalen Tanzszene erfassen können und eine Auslastung von 95 Prozent erzielt. Vanackere führt das unter anderem auch auf die angemessene Förderung zurück, die das Festival Tanz im August für sein 30-jähriges Jubiläum erhalten hat. Dieses Jahr bekam das HAU 100 000 Euro zusätzlich zu den 750 000 Euro vom Hauptstadtkulturfonds und die Lottostiftung hat das Outdoor-Projekt STREB Extreme Action mit 200 000 Euro bezuschusst. In den letzten Tagen fuhr das Festivalprogramm nochmal auf Hochtouren und zeigte mit Paradise Now (1968 – 2018) von faBULEUS/ Michiel Vandevelde und mit dem Pina Bausch Tanztheater aus Wuppertal/ Alan Lucien Øyen Neues Stück II zwei in sich unterschiedliche und sensationelle Arbeiten. Choreograf Vandevelde und sein Ensemble von faBULEUS (Zulaa Antheunis, Sarah Bekambo, Jarko Bosmans, Bavo Buys, Wara Chavarria, Judith Engelen, Abigail Gypens, Lore Mertens, Anton Rys, Margot Timmermans, Bo Van Mervenne, Esra Verboven, Aron Wouters) widmen sich in Paradise Now (1968 – 2018) den historischen Ereignissen der letzten 50 Jahre und versuchen ihre Umwelt mit dem Geist der 68iger zu infizieren.

Vandevelde und faBULEUS schaffen Bilder über Bewegungen und Posen von historischen Ereignissen und über projizierte Jahreszahlen oder Wörter. Die Imaginationen sind sehr stark und emotional aufgeladen. Besonders die Posen von Kurdî und vom Massenmord in Srebrenica erzeugen ausdrucksstarke Momente. In der Szene Srebrenica liegen die jungen Menschen in einer Reihe mit den Händen auf dem Rücken auf dem Boden. Es symbolisiert ein Massengrab und vergegenwärtigt, wie grausam der Mensch ist.

Die Zeitreise der Performer*innen ist sehr spannend, unterhaltsam, aber auch bedrückend. Dem künstlerischen Team ist es gelungen 50 Jahre Geschichte nur mit Posen und wenigen Mitteln zu rekonstruieren. Schade ist, dass die revolutionäre Energie der jungen Menschen sich nicht ganz auf die Zuschauer überträgt. Die erotisierten Momente von Polygamie und das nackte Herumstreifen der Pubertierenden in den Zuschauerraum haben eher für Verwirrung und Distanz als für Anteilnahme gesorgt.

Weiter zurück in die Vergangenheit ging es mit dem Pina Bausch Tanztheater aus Wuppertal/ Alan Lucien Øyen Neues Stück II, welches vom 31.8. bis zum 2.9.2018 an der Volksbühne Berlin gastierte. Regisseur Øyen hat sein Ensemble in die 20-30iger Jahre zurückversetzt und sie die intime Momente des Lebens, wie Tod, Liebe und dem Wunsch nach dem Nichts, erkunden lassen. In über drei und halb Stunden tauchen die Zuschauer in Geschichten und Schicksalsschlägen von facettenreichen Menschen. Die Drehbühne von Alex Eales passt sich diesen Menschen an und wechselt mit unterschiedlichen Bauelementen von Szene zu Szene und von Moment zu Moment. Bühne und Ensemble gelangen dadurch immer wieder in neue Situationen und Orte. Sie erfahren Grenzbereiche und erfinden sich neu; manchmal auch Jenseits von der Realität.

>>Neues Stück II<<, Ensemble, Foto: Mats Bäcker.

Øyens Inszenierung Neues Stück II hat als einzigen roten Faden das facettenreiche Leben. Eine durchgehende Geschichte gibt es nicht. Der Zuschauer erfährt über unterschiedliche Erzählungen und Ausdrucksweisen den Menschen in seinen extremen Situationen. Wie die Szene, in der eine Schauspielerin für eine Filmsequenz geschminkt und gebrieft wird. Sie nimmt ihre Waffe, führt sie zur Schläfe und erschießt sich. Sie liegt tot im Sessel. Die Crew räumt auf. Das Licht geht aus. Alles ist dunkel. Plötzlich steht sie auf und ruft nach dem Regisseur. Es wirkt als befinde sie sich im Jenseits. Doch dann beginnt die Szene, wie in einem Loop von Anfang. Der Suizid, der in Neues Stück II öfters thematisiert wird, ist eins der intimsten Momente eines Menschen. Es ist der Wunsch das absolute Nichts zu erfahren.

Es ist sehr faszinierend und eindrucksvoll, wie der Regisseur Øyen sich an menschliche Schicksale heranwagt. Neben den zutiefst theatralischen Momenten, setzt der Regisseur auch auf Zynismus, wie die Publikumsinteraktion mit dem Spiel Galgenmännchen. Zu gewinnen gab es Zigaretten, welche an diesen Abend fester Bestandteil der Crew waren. Die Inszenierung Neues Stück II bemüht sich unterschiedliche Genre zu bedienen, doch die Schauspielerei bleibt im Vordergrund. Selten sind Tanzszenen zu sehen, die über ein Solo hinausgehen. Aber berührend und mitreißend ist die Inszenierung allemal und bringt das Tanzfestival für sein 30-jährige Jubiläum nach dreieinhalb Wochen  mit einer erfolgreichen Bilanz zu einem guten Abschluss.

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