Versuchslabor: Kinderzimmer

Kulturwissenschaftler Klaus Cäsar Zehrer rezipiert in seinem Romandebüt >>Das Genie<<  die tragischen Geschichte des amerikanischen Wunderkinds William James Sidis und schafft ein fesselndes Stück Weltliteratur.

 

Angekommen als Emigrant in New York, verabschiedet sich der junge Ukrainer Boris Sidis von seinen beiden nervigen Reisebegleitern. Ohne die Amtssprache zu beherrschen, ohne Beruf und mit kaum Geld, sozusagen mittellos in einer fremden Stadt, versucht er seinen Neubeginn. Boris Sidis mangelt es nicht an Intellekt. Er ist hochbegabt, die Gleichberechtigung ist ihm immanent und für ihn ist Bildung der Schlüssel für eine gerechte Gesellschaft. So kommt es, dass Sidis in kurzer Zeit Englisch lernt, unterrichtet, heiratet, an der Eliteuniversität in Harvard in Philosophie und Medizin promoviert und eine erfolgreiche Karriere als Psychologe und Psychiater einschlägt. Er wird berühmt mit der Auffassung, Psychosen sind auf geistige Dissoziation zurückzuführen, der Entdeckung des Subwaking Self und seiner hypnotischen Therapiemethode. Als seine Frau Sarah Mandelbaum-Sidis ihr gemeinsames Kind, William James Sidis zur Welt bringt, verwandelt sich die Wohnung des jungen Ehepaars zu einem Forschungslabor. Hier wird das Neugeborene mit der Sidis Erziehungsmethode als Genie herangezüchtet. Der junge William James kann mit nur zwei Jahren lesen, spricht im Alter von sechs Jahren 10 Sprachen und hat vier Bücher verfasst. Mit 10 Jahren hält er an der Harvard Universität seinen ersten Vortrag über seine Theorie der 4. Dimension. Laut der New York Times, zählt das amerikanische Wunderkind zu den größten Mathematiker aller Zeiten. Doch Williams vorprogrammierte Karriere beginnt zu scheitern.

Auf knapp 650 Seiten erzählt der Autor Klaus Cäsar Zehrer in seinem Romandebüt >>Das Genie<<, welches am 23.8.2017 im Diogenes Verlag erschienen ist, das Leben von der Familie Sidis und die tragische Geschichte eines Genies, dem es verwehrt bleibt ein (funktionierender) Teil der Gesellschaft zu werden. Zehrers umfassende Recherchen ermöglichen es ihm eine detailtreue und episch-einmalige Rezeption zu schreiben, die Dank ihrer zeitgenössischen Sprache und humorvollen Zynismus unterhaltsam ist und die Leser an die tragische Geschichte der Protagonisten fesselt. Der Autor lässt gekonnt den Protagonisten Boris Sidis von seinem Sohn William James Sidis als Hauptcharakter ablösen und verflechtet somit beide Biografien zu einer tragischen Familiengeschichte. Zehrer verliert sich aber nicht in der Familiengeschichte und behält den Fokus auf das Schicksal seiner Protagonisten, Boris und William James Sidis. Die historische Detailtreue des Romans schafft eine gelungene Aufzeichnung der Psychologiegeschichte des 19. Jahrhunderts und eröffnet zudem einen Diskurs über geeignete Erziehungsmethoden und die Frage, ab wann Kindesmissbrauch anfängt. Viele Erziehungsberechtigte sehnen sich nach hochbegabten Kindern und vergessen dabei die besondere Fürsorge und die Vermittlung von sozialen Komponenten, welche begabte Kinder benötigen, um nicht gefühlsgestört und überlebensfähig aufzuwachsen. Am Beispiel vom Wunderkind William James Sidis, das immer noch mit seinem Intelligenzquotienten den Weltrekord hält, zeichnet der Autor Zehrer auf, wie schwer hochbegabte Menschen sich in den gesellschaftlichen Alltag integrieren können, immer wieder an gesellschaftliche Strukturen anecken und dabei auf Unverständnis bei ihren Mitmenschen stoßen. Häufig werden intelligente Menschen als melancholische Zeitgenossen deklariert, aber Zehrer glaubt, >>[…], er [William James Sidis] war nicht unglücklich mit sich, sondern eher mit der Gesellschaft<<. Es mag sehr gut sein, dass viele Genies nicht mit sich selbst, sondern mit der Gesellschaft unglücklich sind. Aber auch ein genialer Geist kann nicht ohne Mitmenschen existieren, was die Tragik des Romans >>Das Genie<< auf den Punkt bringt. Der Psychologe Boris Sidis wollte mit seiner Erziehungsmethode aus allen Menschen hochbegabte Individuen erschaffen, die gemeinsam in einer klassenlosen, gerechten und friedlichen Gesellschaft zusammenleben. In seinen Augen war der Schlüssel für so eine Gesellschaft, die Bildung. Weil Wissen die Spiegelung von Macht ist.

Die epische Rezeption >>Das Genie<< von Klaus Cäsar Zehrer ist einzigartig und auf vielen Ebenen, wie beispielsweise Erzählstruktur, Schreibweise, Detailtreue und Unterhaltung sehr gelungen und ein fesselndes Stück Weltliteratur.

Klaus Cäsar Zehrer: >>Das Genie<<, erschienen am 23.8.2017 im Diogenes Verlag Zürich| Kosten: 21,99 Euro| http://www.diogenes.ch/leser/titel/klaus-caesar-zehrer/das-genie-9783257608243.html

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