DANCE 7. – 14. Mai 2015 (München)| Raimund Hoghe – Der Blick und der Andere – Hoghes Inszenierung „Quartet“ unter den Blickwinkeln der Phänomenologie von Jean-Paul Sartre

Raimund Hoghe, der 1949 in Wuppertal geboren wurde, zählt neben Meg Stuart, Xavier Le Roy oder Jérôme Bel zu den wichtigsten zeitgenössischen Choreographen. Dabei führte Hoghes Weg zuerst in die Schriftstellerei. Er verfasste einige Bücher und Kurzgeschichten, die sich thematisch anlehnen an seine Portraits von Außenseitern und Prominenten, welche regelmäßig in der Wochenzeitschrift DIE ZEIT erschienen sind. Aber er realisierte auch Filme für das Fernsehen, wie für den Westdeutschen Rundfunk das Selbstportrait „Der Buckel“ oder „Cartes Postales“ für ARTE. Schon in seinen Schriftstücken und in seinen Filmen lässt sich erkennen, dass sich Hoghe immer wieder mit dem Phänomen des Anderen auseinandersetzt. Er fokussiert sich hierbei auf Außenseiter beziehungsweise auf gesellschaftlich-ausgegrenzte Personen. Eine wichtige Rolle in dieser Auseinandersetzung spielt auch sein eigener Körper.

[1994] trat ich auf in Shakespeares Komödie der Irrungen, als buckliger Schneider. Das war eine der Rollen, die für Leute mit meinem Körper vorgesehen sind. Es gibt vorgeschriebene Rollen für Behinderte und für mich war es wichtig, gegen die Klischeevorstellungen anzugehen.1

Wie nach dem Zitat von Pier Paolo Pasolini, wirft Hoghe seinen „Körper in den Kampf“ und verpflichtet sich mit seinem eigenen Körper auf der Bühne zum Umgang mit Aids-Kranken, Behinderten, Körpern und Biografien, die sich außerhalb der Norm befinden; bezieht dadurch Stellung und öffnet den Blick für achtsame Bewegungen mit dem Anderen.2

1979 bekam er ein Engagement als Dramaturg für Pina Bauschs Tanztheater in Wuppertal, in diesen zehn Jahren lernte er nicht nur den Ausdruckstanz von Bausch schätzen, sondern er teilte Bauschs „(…) Vorliebe für den sinnlichen Umgang mit Requisiten, für die Themen Kindheit, Sehnsucht, Liebe und Erinnerung. Auch die Überzeugung, dass alles, was man auf der Bühne tut, einen Grund haben muss.“3 Im letzten Jahr seines Engagements als Dramaturg, begann Hoghe eigene Arbeiten zu inszenieren, in denen er eine eigene Bildsprache entwickelte und so mit den Körpern schreiben lernte.

Viele Jahre habe ich mit Worten geschrieben. Der Körper hinter den Worten war nicht sichtbar. Jetzt schreibe ich mit Körpern – mit meinem Körper und den Körpern von Tänzern. Zwischen dem Schreiben mit Worten und dem Schreiben mit Körpern – letztlich besteht da für mich kein Unterschied. Nur dass der Körper des Autors auf der Bühne sichtbar ist und Teil des Schreibens.4

Neben den Schreiben mit Körpern, seiner Nähe zur japanischen Ästhetik von Ushio Amagatsu und Sankai Juku sind Hoghes Arbeiten von Minimalismus geprägt. Genau wie Tschechow es einst äußerte, ist das Wichtigste die Einfachheit. Es komme nicht darauf an, gut zu schreiben, sondern schlecht Geschriebenes zu streichen. Nach diesem Prinzip arbeitet auch Hoghe, sodass kleine Gesten zum Ereignis werden können. Das einzige, was sich an der minimalistischen Form bricht, ist die Musik. Für Hoghe steht jedes einzelne Musikstück für sich, hat aber zugleich eine Verbindung zu den anderen Musikstücken und zu den passierenden Handlungen. Die pathetische Musik, die sich an der Form des Minimalismus bricht, zielt auf Berührung, auf ein Spiel mit Nähe und Distanz. Dabei ist Hoghes hochartifizielle Ästhetik nicht reine „L’art pour l’art“, das heißt eine Kunst der reinen Schönheit, die selbstgenügsam stehen bleibt, sondern seine Ästhetik weitet den Blick auf das Nebensächliche, das Unspektakuläre, das Andere.

Hoghes Inszenierung „Quartet“ unter den Blickwinkeln der Phänomenologie von Jean-Paul Sartre

Die Hauptsache am Menschen sind seine Augen und seine Füße. Man muß die Welt sehen können und zu ihr hingehen.“ (Alfred Döblin)

Jede Inszenierung braucht ihre Zeit. Die Tänzer sollen die Musik spüren und gemeinsam mit den Zuschauern diesen Moment erleben. – Der Choreograf Raimund Hoghe spielt in seinen Arbeiten auf eine hochkomplexe Weise mit der Perspektive des Blicks und schafft unter anderem mit Wiederholungen und Spiegelungen eine neue Welt von Bewegung, die sich in der Zeit ausdehnt. In seiner aktuellen Inszenierung „Quartet“, die ihre Uraufführung am 14.11.2014 am tanzhaus nrw in Düsseldorf feierte, setzt Hoghe wieder auf Minimalismus und bewegt sich thematisch in einem kollektiven Gedächtnis von zeitgeschichtlichen Kontexten, die sich in einzelnen Musikstücken repräsentieren. Die Musikkompositionen von Franz Schuberts Streichquartett „Der Tod und das Mädchen“, wie auch Georg Friedrich Händels „Sarabande“ spielen in Hoghes „Quartet“ eine besondere Rolle. Hoghe kombinierte die Kompositionen von Schubert und Händel mit italienischen Canzonen, japanischen Schlagern und Songs aus amerikanischen Musicals. Somit wird „Quartet“ zu einer Reise durch verschiedene Zeiten und Kulturen, zeigt Unterschiede und Gemeinsamkeiten auf, gedenkt den Tod und zelebriert das Leben.

Das Bühnenbild ist schlicht gehalten: Eine robuste Mauer, einige Scheinwerfer und dunkelblaue Vorhänge aus Samt an den Linken und Rechten Außenseiten zieren das Bühnenbild. Direkt zu Beginn ertönt Schuberts „Der Tod und das Mädchen“, neben der Musik tritt der Choreograf Raimund Hoghe ganz in Schwarz auf die Bühne und verteilt mit lässiger Geste in Rot und Gold gekleidete Tischtennisbälle im ganzen Bühnenraum. Nachdem Hoghe die Bühne verlassen hat, treten nach und nach die einzelnen Tänzer auf. Meist in Weiß, Grau oder Schwarz gekleidet. Nur selten sind in „Quartet“ Farben zu sehen und dann auch nur Rot, Gelb, Gold und Grün.

Ganz adrett in Lackschuhen oder Pumps bewegen sich die Tänzer langsam, aber bedacht zur Musik und verschwinden wieder. Erst die vierte Tänzerin, Ornella Balestra, die dank ihrer schwarzen Kleidung und ihrer Sonnenbrille einer Diva ähnelt, sammelt unermüdlich wie Sisyphos die verkleideten Tischtennisbälle wieder auf. Doch anders als Sisyphos ist die Tänzerin Balestra nicht verdammt und weiß, wann es sich der Mühe nicht mehr lohnt und geht nach etlichen versuchen des Einsammelns ab.

Hoghes choreografierte Tanzeinlagen gehen jedes Mal mit den einzelnen Musikstücken konform und beanspruchen je nach Spannungsmoment in unterschiedlicher Art und Weise den Bühnenraum. Dabei sorgen die eingespielten Reden von beispielsweise der Diva Liza Minelli oder andere Gesprächsaufzeichnungen für dynamische Bruch-Momente, in dem unter anderem der Mensch als Getriebener, nach Gier sowie Anerkennung strebendes Wesen in den Vordergrund tritt. Ausgezehrt und nach Ruhm lechzend, wird der Mensch zu einer Maschine des Showbusiness. Neben den Tänzen, der Musik und den Gesprächsstücken, ist „Quartet“ mit fantastischen Bildern ausgestattet, in der Hoghe nicht nur sein Gespür für Details offenbart, sondern mit Licht, Farben, Codes| Semantik und Blicken spielt. Beispielsweise kontrastieren die weißen Tücher am Ende sehr stark mit dem Licht und zaubern dadurch ein atemberaubendes Schwarz-Weiß-Bildnis. An einer anderen Stellen fixiert Hoghe den Blick des Zuschauers gezielt auf wahrzunehmende Objekte beziehungsweise Handlungen, in dem ein Tänzer zum Beispiel seine Schuhe auszieht und die ausgezogenen Schuhe symmetrisch angeordnet stehen lässt. Somit lenkt Hoghe den Blick des Zuschauers auf die Füße des Tänzers.

Für Jean-Paul Sartre ist der Blick der Moment, in dem der Mensch mit seinem „Für-Sich“ in Beziehung mit dem „An-Sich“ tritt, das heißt der Mensch erblickt die Welt und nimmt an ihr teil. Durch das Erblicken der Welt und die Anteilnahme, wird das Ich mit seinem Körper erfahrbar. Was heißt das? In dem ich mit meinen Blick den Anderen erblicke, entziehe ich ihm seine Welt und objektiviere ihn. Der Andere ist ein Objekt. Dabei ist es egal, ob ich einen Gegenstand oder ein Subjekt erblicke. Das Erblicken setzt einen Objektivierungsprozess in Gang, dem auch ich mich erst mal nicht entziehen kann. Mit dem Blick stiehlt der Andere mir meine Welt. Er entzieht sie mir. Dadurch werde ich zum Anderen, zum Objekt. Ich bin mir entfremdet, weil ich zum Objekt geworden bin. Der Andere existiert in der Welt. Durch seine Existenz werde ich mir fremd in meiner Welt, deswegen versuche ich dem Blick zu entweichen, um nicht entfremdet zu werden. Es gibt nämlich nur meine Welt oder die Welt des Anderen. Entweder werde ich zum Objekt oder ich erkämpfe mir meine Welt durch Objektiverung des Anderen zurück. Sprich der Blick ist der Umstand objektiviert zu werden. Durch die Objektivierung werde ich zum Anderen oder der Andere wird zum Objekt.

So ist plötzlich ein Gegenstand erschienen, der mir die Welt gestohlen hat. Alles ist an seinem Platz, alles existiert immer noch für mich, aber alles ist von einer unsichtbaren und erstarrten Flucht auf einen neuen Gegenstand hin durchzogen. Die Erscheinung des Anderen in der Welt entspricht also einem erstarrten Entgleiten des ganzen Universums, einer Dezentrierung der Welt, die die Zentrierung, die ich in derselben Zeit herstelle, unterminiert.5

Durch mein Objekt-Sein im Blick des Anderen muss die Wahrscheinlichkeit seines Subjekt-Seins offen gelegt werden. Das heißt es ist unendlich wahrscheinlich, dass ein Passant, den ich wahrnehme, ein Mensch ist. Dieses fundamentale Erfassen des Anderen offenbart ihn mir nicht mehr als Gegenstand, sondern als „leibhaftige Anwesenheit“.6 Erst, wenn der Mensch tot ist, ist er „An-Sich“, sprich ein (absolutes) Objekt. Die unmittelbare Anwesenheit seines Blicks erschafft bei mir eine Distanz, die mich vom Wahrnehmen des Objekt-Anderen fernhält. Meine Wahrnehmung löst sich im Moment des Blicks auf und tritt in den Hintergrund. Dabei erfasse ich den Anderen gleichzeitig als Menschen und als Objekt. Dies ist möglich, weil mein reflexives Bewusstsein das Ich direkt als Person und Objekt wahrnimmt, wobei die wahrgenommene Person meinen unreflektierten Bewusstsein, welches das Ich auf der Ebene der Objekte der Welt wahrnimmt, gegenwärtig wird, indem es Objekt für Andere ist.

So bin ich für mich nur eine reine Verweisung auf Andere.7 In der Scham wird dies am deutlichsten. Das Schamgefühl ist ein Bewusstseinsmodus mit einer intentionalen Struktur, in der ich etwas schamerfüllt erfasse und zwar mich.

Ich schäme mich dessen, was ich bin. Die Scham realisiert also eine intime Beziehung von mir zu mir: durch die Scham habe ich einen Aspekt meines Seins entdeckt. […] Ich habe mich ungeschickt (…) benommen (…) ich realisiere es nach dem Modus des Für-Sich. Aber plötzlich hebe ich den Kopf: jemand war da und hat mich gesehen. Mit einenmal [sic.] realisiere ich die ganze Grobheit meines Benehmens und schäme mich.8

Der Andere fungiert in der Scham als Vermittler zwischen mir und mir selbst, sodass ich in der Lage bin, ein Urteil über mich selbst wie über ein Objekt zu fällen, weil ich dem Anderen als Objekt erscheine und ich dieses Erscheinen durch die Scham unweigerlich anerkennen muss.

Nun bin ich, das Ich in einer Welt, die der Andere mir entfremdet hat, weil der Blick des Anderen mein „Für-Sich“ und mein „An-Sich“ umfasst. Sein Blick vergegenwärtigt mir, dass mir seine Welt entgeht. Zugleich verleiht der Blick des Anderen meiner Zeit eine neue Dimension. Aber dadurch erfahre ich den Anderen als ein freies und bewusstes Subjekt, das seine Welt konstruiert, sich auf seinen Möglichkeiten hin entwirft und verzeitlicht. Sartres „Blick“ beschreibt eine unbezweifelbare Gewissheit des Cogito – das wir für alle lebenden Menschen existieren, das heißt es gibt mehrere Bewusstseine für die Ich existiere. Deshalb ist der Mensch für Sartre ein zu sich selbst verhaltendes Wesen, welches zu sich selber Distanz einnehmen kann und dadurch die Fähigkeit besitzt sich von anderen zu unterscheiden.

Aber wir können hier nicht stehen bleiben: dieses Objekt, das der Andere für mich ist, und dieses Objekt, das ich für den Anderen bin, manifestieren sich als Körper. Was ist also mein Körper? Was ist der Körper des Anderen?9

In der phänomenologischen Ontologie von Sartre wird der Körper nur durch den Anderen erfahrbar, das heißt in seinem „Für-Andere-Sein“. Durch die körperliche Erscheinung des Anderen, der mir als Werkzeug der Seele entgegentritt, beziehungsweise als ein Instrument, welches ich mit anderen Instrumenten benutzen kann, integriert der Körper des Anderen sich in meine Welt und zeigt mir somit meinen Körper an.

Wir schreiben ja dem Körper-für-den-anderen eben soviel Realität zu wie dem Körper-für-uns-. Mehr noch, der Körper-für-den-anderen ist der Körper-für-uns, aber unerfaßbar und entfremdet. Es kommt also so vor, als ob der andere für uns eine Funktion erfüllt, zu der wir unfähig sind und die uns doch obliegt: uns sehen, wie wir sind.10

Der Körper offenbart sich durch seine Bewegungen und Handlungen zu den Objekten.

Ich nehme nie einen Arm wahr, der sich an einem unbeweglichen Körper entlang erhebt: ich nehme Pierre-der-die-Hand-hebt wahr. Damit ist jedoch nicht gemeint, daß ich die Bewegung der Hand urteilsmäßig auf ein <<Bewußtsein>> bezöge, das sie hervorriefte; vielmehr kann ich die Bewegung der Hand oder des Arms nur als eine zeitliche Struktur des ganzen Körpers erfassen. Hier bestimmt das Ganze die Ordnung und die Bewegung der Teile.11

Wie bereits erwähnt, befasst sich Hoghe in seinen Inszenierungen mit dem Anderen, hierunter versteht er unter anderem gesellschaftlich Ausgegrenzte und Außenseiter. Der Körper spielt für ihn dabei eine große Rolle, weil er seinen Körper als Repräsentant der ausgegrenzten Körper nimmt. Er wirft seinen „Körper in den Kampf“ und bezieht mit dem Blick des Anderen Stellung. In „Quartet“ fixiert Hoghe den Blick des Zuschauers gezielt auf wahrzunehmende Objekte beziehungsweise auf Handlungen, in dem zum Beispiel ein Tänzer seine Schuhe auszieht und die ausgezogenen Schuhe symmetrisch angeordnet stehen lässt. Somit lenkt Hoghe den Blick des Zuschauers auf die Füße des Tänzers und offenbart mir durch diese Handlung den Körper des Anderen. Sprich ich als Zuschauer objektiviere mit meinen Blick den Tänzer, nehme ihn als Objekt beziehungsweise als das Andere-Sein wahr. Der Blick des Tänzers wiederum objektiviert mich zum Anderen, dadurch erkenne ich das Cogito und integriere den Anderen in meine Welt. Parallel dazu wird mir das Subjekt-Sein des Tänzers gewahr, weil ich mich in ihn erkenne. Dasselbe Spiel lässt sich auch in der Abschlussszene der Inszenierung „Quartet“ finden und zwar in der Hoghe mit sanften Sprüngen weiße Tücher auf dem Boden symmetrisch verteilt und mit der Dämmerung des Lichts die weißen Tücher langsam mit der Dunkelheit verblassen lässt. In der Interaktion zwischen dem Tänzer Hoghe und den weißen Tüchern, kommt mir erneut der Körper des Anderen zum Vorschein und offenbart mir, dass der Andere und ich identisch sind, das heißt wir sind gleich, aber nicht dasselbe. Durch das Erkennen des Anderen werde ich mir meinem Objekt-Sein bewusst und schreibe dem Anderen das Subjekt-Sein zu. In dem ich mir meinem Objekt-Sein bewusst werde, kann ich mich als An-Sich erfassen und dabei vermittelt mir der Blick des Anderen die Tatsache, dass ich mich niemals so-sehen-kann, wie der Andere mich sieht. Mir wird deutlich, dass mir seine Welt und seine Sicht auf die Welt versperrt bleiben. Hoghe lenkt die Blicke der Zuschauer und ermöglicht, dadurch eine Perspektive des Anderen, in dem er die Aufmerksamkeit der Zuschauer mit Bewegungen und Objekten zu seiner choreografierten Wahrnehmung leitet und dabei die körperliche Erscheinung des Anderen entblößt.

Hoghes Buckel fängt unseren Blick, weil er den Blick stört. Er markiert eine Störung, die auf etwas Grundsätzliches verweist: einen anderen, gesellschaftlichen Blick nämlich, der immer schon da ist, ohne dass wir ihn als solchen sehen oder verorten könnten.12

In „Quartet“ wird der Zuschauer zum Anderen, beziehungsweise Hoghe ermöglicht mit seiner künstlerischen Führung das Schreiben mit Körpern. Die Tänzer sind seine Schreibwerkzeuge; mit denen er in „Quartet“ unter anderem mehrmals den Tod beschreibt.

Beispielsweise liegt Hoghe in einer Szene auf dem Boden, eine Topfpflanze mit gelben Blütenblättern in der Hand. Dies erinnert nicht nur an einen gestorbenen Menschen im Sarg, sondern die Szene lässt auch eine assoziative Verbindung zu Beerdigungszeremonien herstellen. Weiter gibt es eine Szene in der Hoghe auf dem Boden liegt und sich ein rotes Tuch auf sein Gesicht legt. Die soeben beschriebenen Szenen, die einer Wiederholung gleichen, existieren in „Quartet“ noch in Form einer Spiegelung, in der neben Hoghe ein weiterer Tänzer regungslos auf dem Boden liegt. In der Spiegelung erscheint der Andere als die Grenze meiner Freiheit und zugleich als Spiegel meiner Selbst.13

An diesen beschrieben Szenen lässt sich unter anderen Hogehes starke thematische Verbindung zu Riten erkennen, weil das Spiel mit den Farben, Bewegungen und Gestiken auf Todes- oder Hochzeitriten hindeuten. In Korea oder in westafrikanischen Ghana ist Rot die Farbe des Todes und der Trauer, wobei die Farbe Rot in China für Ruhm und Reichtum steht und meist zu Hochzeitzeremonien getragen wird. Und die Farbe Gelb steht ganz im Zentrum von Leben und Hochzeit. Auch die Tänzerin Ornella Balestra verweist mit ihrer Kostümierung als Diva auf Erlösung. Die Frage ist nur, von was soll uns die Diva erlösen?

Durch die Interaktion von Tänzern und Requisiten integriert Hoghe die Körper der Tänzer in meine Welt und ermöglicht mir dadurch die Wahrnehmung meines Körpers. Durch die wahrzunehmende Distanz zwischen den Körpern der Tänzer und den Körpern der Zuschauer, erleben die Zuschauer den Körper der Tänzer als ihren eigenen Körper. Sie empfinden ihn als identisch und gleich, obwohl sie wissen, dass ihr Körper und der Körper der Tänzer nicht dasselbe sind. Hoghes angeordnete Choreografie schafft mit den gelenkten Blicken, dass ich als Zuschauer den Anderen als mit mir identisch erfahre und hebt somit in „Quartet“ das Nähe-Distanz-Problem zum Anderen auf.

Am Beispiel seiner eigenen Choreografien zeigt er [Hoghe], wie er als Tänzer seinen behinderten Körper einsetzt. Seine künstlerischen Choreografien sind nicht autobiografisch motiviert, sondern stehen stellvertretend für eine Auseinandersetzung mit normativen Körperbildern mit sozialer Marginalisierung, Abweichung und Ausgrenzung.14

Ferner eröffnet er mir dadurch eine neue Welt, nämlich die des Anderen und verschafft meinem zeitlichen Empfinden eine neue Dimension.

Quartet“

Konzept, Choreografie, Ausstattung: Raimund Hoghe

Künstlerische Mitarbeit: Luca Giacomo Schulze

Tanz: Ornelia Balestra, Marion Ballester, Emmanuel Eggermont, Takashi Ueno, Raimund Hoghe, Luca Giacomo Schulte, Yuta Ishikawa.

Musik: Fanz Schubert, Edward Grieg, Georg Friedrich Händel, Johann Sebastian Bach, Irving Berlin, Chartes Aznavour, Marianne Faithful u.v.m.

Licht: Raimund Hoghe, Johannes Sundrup

Ton: Pascal Gehrke

Management: Judith Jeager

DANCE 7. – 14. Mai 2015 (Carl-Orff-Saal, Gasteig| München)| Fr. 15. Mai 2015 19h| Karten und weitere Informationen: http://www.dance-muenchen.de/programm/vorstellung/raimund-hoghe/

Quellenverzeichnis:

Gisi, Martin: Der Begriff Spiel im Denken J.-P. Sartres. Entfremdete und authentische Existenz, dargestellt anhand des Begriffs Spiel. Königsstein/ Ts.: Forum Academicum in der Verlagsgruppe Athenäum, 1979. (= Monographien zur Philosophischen Forschung, Bd. 176).

Wege der Wahrnehmung: Authentizität, Reflexivität und Aufmerksamkeit im zeitgenössischen Theater. Hrsg. Erika Fischer-Lichte, Barbara Gronau, Sabine Schonten und Christel Weiler. Berlin: Theater der Zeit, 2006. (= Recherchen 33).

Performance: Positionen zur zeitgenössischen Kunst. Postionen zur zeitgenössischen szenischen Kunst. Hrsg. Gabriele Klein, Wolfgang Sting. Bielefeld: transcript Verlag, 2005.

Raimund Hoghe. Hg. Kunststiftung NRW. Düsseldorf. Berlin: Theater der Zeit, 2013.

Sartre, Jean-Paul: Das Sein und das Nichts – Versuch einer phänomenologischen Ontologie. 13. Aufl. Hrsg. Traugott König. Hamburg: Rowohlt Taschenbuch Verlag, 2007.

Schmidt-Millard, Thorsten: Authentizität – Bildung – Körperbildung: Sartres Menschenbild in pädagogischer Sicht. Sankt Augustin: Academia-Verlag, 1995. (= Schriften der dt. Sporthochschule Köln; Bd. 29| Zugl.: Köln, dt. Sporthochschule: Habil.-Schrift, 1994).

Schreiben mit Körpern. Der Choreograf Raimund Hoghe. Hrsg. Katja Schneider und Thomas Betz. München: K. Kieser Verlag, 2012.

Suhr, Martin: Jean-Paul Sartre – Zur Einführung. 2.Aufl. Hamburg: Junius Verlag, 2004. (= Zur Einführung, 294).

http://www.dance-muenchen.de/programm/vorstellung/raimund-hoghe/

http://www.die-deutsche-buehne.de/Kritiken/Tanz/Raimund+Hoghe/Quartet/Last+und+Lust+des+Ruhms

1Hoghe, Raimund: Den Körper in den Kampf werfen. In: Performance: Positionen zur zeitgenössischen Kunst. Positionen zur zeitgenössischen szenischen Kunst. Hrsg. Gabriele Klein, Wolfgang Sting. Bielefeld: transcript Verlag, 2005. S.51.

2Vgl. Schreiben mit Körpern. Der Choreograph Raimund Hoghe. Hrsg. Katja Schneider und Thomas Betz. München: K. Kieser Verlag, 2012. S.7.

3Schreiben mit Körpern. Der Choreograph Raimund Hoghe. München, 2012. S.14.

4Hoghe, Raimund. Hrsg. Kunststiftung NRW, Düsseldorf. Berlin: Theater der Zeit, 2013. S.5.

5Sartre, Jean-Paul: Das Sein und das Nichts – Versuch einer phänomenologischen Ontologie. 13. Aufl. Hersg. Traugott König. Hamburg: Rowohlt Taschenbuch Verlag, 2007. S.462.

6Vgl. Sartre, Jean-Paul: Das Sein und das Nichts – Versuch einer phänomenologischen Ontologie. Hamburg, 2007. S.457.

7Ebd. S.470

8Sartre, Jean-Paul: Das Sein und das Nichts – Versuch einer phänomenologischen Ontologie. Hamburg, 2007. S.405.

9Ebd. S.523f.

10Ebd. S.623.

11Ebd. S.609f.

12Schreiben mit Körpern. Der Choreograph Raimund Hoghe. München, 2012. S.14.

13Vgl. Schmidt-Millard, Thorsten: Authentizität – Bildung – Körperbildung: Sartres Menschenbild in pädagogischer Sicht. Sankt Augustin: Academia-Verlag, 1995. (= Schriften der dt. Sporthochschule Köln; Bd. 29| Zugl.: Köln, dt. Sporthochschule: Habil.-Schrift, 1994). S.173.

14Performance: Positionen zur zeitgenössischen Kunst. Positionen zur zeitgenössischen szenischen Kunst. Hrsg. Gabriele Klein, Wolfgang Sting. Bielefeld: transcript Verlag, 2005. S.18.

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